Das Geheimnis der Freiheit


Mensch und GOTT bei Martin Luther

Martin Luther denkt in großen Paradoxien, das heißt in uns widersprüchlich erscheinenden Gegensätzen. Er erkennt damit die Größe GOTTES, die alle menschliche Wirklichkeit übersteigt und mit menschlicher Vernunft nicht fassbar ist. Charakteristisch für dieses Denken ist, dass die Paradoxien nicht auf einer höheren Ebene aufgelöst werden können, sondern gerade in ihrer Paradoxität die Wahrheit zur Sprache bringen.

Mit der Deutung des Christen als simul peccator et iustus, als Sünder und Gerechter zugleich, hat Luther die entscheidende Formel gefunden, um sowohl das bleibende Sündersein als auch das Gerechtfertigtsein des Menschen durch den Glauben zum Ausdruck zu bringen. Es ist gerade diese Spannung, die das Wesen des Menschen ausmacht.

Menschliche Abgründe
Luther deutet die menschliche Wirklichkeit „zwischen GOTT und Teufel“. Weil der Reformator gewiss ist, dass GOTT dem Menschen alle Sünden immer neu ohne Vorbedingungen zu vergeben bereit ist, scheut er sich nicht, den Menschen in seiner ganzen Abgründigkeit anzuschauen. Er wagt es, die Gefangenschaft des Menschen unter der Herrschaft von Sünde, Tod und Teufel ungeschminkt wahrzunehmen.

Seine Sicht des Menschen reicht bis in die dämonischen Abgründe des Menschseins, wie sie zum Beispiel im vergangenen Jahrhundert in den KZs des Dritten Reiches und auch den Gulags Stalins sichtbar geworden sind. Sie erlaubt es ihm, das permanente Versagen und Schuldigwerden jedes religiösen Menschen, auch jedes Christen, nicht zu verdrängen.

Mit dem Menschenkenner Theodor Fontane gesprochen: „Denn so groß und stark das menschliche Herz ist, eins ist noch größer: seine Gebrechlichkeit und seine wetterwendische Schwäche.“

Realistisches Menschenbild
Diese Sicht des Menschen durch Luther muss heute vor einem weit verbreiteten Missverständnis geschützt werden. Der Reformator hat durch das Studium der Bibel kein pessimistisches, sondern ein realistisches Menschenbild gewonnen. Es will den Menschen weder klein machen noch ihn entmündigen. Vielmehr soll der Glaube ihm ermöglichen, sich seiner Freiheit bewusst zu werden und gleichzeitig heilsam bei sich selbst einzukehren.  

Kein „lieber“ GOTT
Auch im Rahmen seines Gottesverständnisses denkt Luther in Paradoxien. Im Kleinen Katechismus heißt es stereotyp in der Erklärung der Zehn Gebote: „Du sollst GOTT fürchten und lieben…“ GOTT ist für Luther kein „lieber GOTT“, eine Wunschvorstellung, die in keiner Weise der Wirklichkeit standzuhalten vermag und gerade heute für die Abwendung vieler Menschen vom christlichen Glauben verantwortlich ist.

Vielmehr ist das Kreuz JESU CHRISTI Ausgangs- und Zielpunkt der Rede Luthers von GOTT – wie schon für den Apostel Paulus (1. Kor. 1,18ff). Die Erkenntnis der bedingungslosen Vergebungsbereitschaft GOTTES in JESUS CHRISTUS hat den Reformator der Liebe GOTTES gewiss gemacht: „GOTT ist ein glühender Backofen voll Liebe.“

Der geheimnisvolle GOTT
Gleichzeitig hat Luther, wie wenige Menschen vor und nach ihm, GOTT in SEINEM Zorn gegen die Sünde erkannt, der genauso wie SEINE Liebe im Kreuz JESU CHRISTI sichtbar wird. Der Reformator spricht in diesem Zusammenhang vom deus absconditus, dem verborgenen GOTT, im Unterschied zum deus revelatus, dem in JESUS CHRISTUS offenbaren GOTT.

Die Rede vom deus absconditus bewahrt Luther – und damit seine Theo-logie allgemein – davor, GOTT zu vereinnahmen. Sie schützt GOTTES Geheimnis. GOTT ist in SEINEM Handeln durch die menschliche Vernunft letztlich nicht zu verstehen. Diese spielt mit GOTT „Blindekuh“, wie Luther sagt, das heißt sie schlägt immer haarscharf daneben, wenn sie meint, GOTT erfasst zu haben.

Auch wenn GOTT in allem Geschehen wirkt, ist er darin nicht zu begreifen. Die Aufgabe des Menschen besteht vielmehr darin, im Glauben vom unverständlich, ja feindlich erscheinenden GOTT immer wieder zum in Kreuz und Auferstehung JESU CHRISTI offenbaren GOTT der Liebe zu fliehen.

In der Gottesbegegnung findet der Mensch zu seiner wahren Berufung und zur inneren Freiheit.

Dr. Peter Zimmerling
Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig und 2. Vorsitzender von el shalom