Gib mir zu trinken!


Begegnung am Brunnen

„Hoffentlich sieht mich keiner!“ Mit diesen Gedanken eilte sie den staubigen Weg entlang - immer wieder scheu um sich blickend. Den leeren Krug hielt sie sicher. Gleich würde sie ihn brauchen. Es war heiß, die Mittagssonne brannte. Sie sehnte sich nach Schutz und Schatten. Doch nun hatte sie eine Aufgabe zu erfüllen, eine lebensnotwendige. Sie brauchte Wasser. Ohne Wasser kann man ja nicht leben.

Gut, dass kaum jemand unterwegs war in dieser Mittagshitze. Sie wollte keinen sehen und treffen. Das Vertrauen in Menschen hatte sie längst verloren. Zu viele Enttäuschungen hatte sie erlebt. Immer wieder hoffte sie auf einen Neuanfang, und dann kam alles so anders. Nein, Menschen konnte sie nicht mehr vertrauen. „Hilf dir selbst, dann ist dir geholfen“, war zu ihrem Lebensmotto geworden. So lief sie weiter, Schritt für Schritt, eilig, um bald wieder im sicheren Schutz des Hauses zu sein …
Wenn sie niemanden traf, brauchte sie sich auch mit keinem auseinanderzusetzen. Andere verstanden sie eh nicht. Sie verstand sich ja oft selbst nicht. Noch weniger wussten die anderen um ihre Enttäuschungen und Verletzungen. Allein konnte sie den eigenen Schmerz etwas zur Seite drängen und manchmal sogar für eine Zeit vergessen.

Unerfüllte Sehnsucht
Von ihrer Sehnsucht nach erfülltem Leben war nur noch ein schmales Rinnsal übrig geblieben. Alles war so anders gelaufen, so anders als erwartet.
Verschollen waren die Träume, die sie einst leben wollte. Was war aus ihnen geworden? Jahr um Jahr wuchs der Trümmerhaufen von Missgeschicken, Frust, Schuld. In ihrem Leben klappte einfach nichts so richtig …
So huschte sie allein in sengender Hitze den Weg entlang, jeden Tag dasselbe, fast wie auf der Flucht. Sie hoffte, keinen zu sehen und auch nicht gesehen zu werden. Nein, schön war das nicht. Doch so war nun mal ihr Leben geworden. Über Jahre gut eingeübt. Keine Änderung in Sicht. Das würde wohl auch so bleiben …  
Sie starrte auf den Staub an ihren Füßen. Es konnte nicht mehr weit sein bis zum Ziel …
Sacht hob sie ihre Augen und sah den Brunnen, zu dem sie wollte. Bald hatte sie es für heute wieder geschafft. Bis jetzt hatte ihr Plan funktioniert, und es war wie erhofft gelaufen …

„Gib mir zu trinken!“
Als sie jedoch näher kam, erschrak sie: Da saß jemand am Brunnen. Umkehren ging nicht mehr. Sie brauchte das Wasser und war ja fast am Ziel. Nun, sie würde die Person einfach nicht beachten, das Wasser in ihren Krug schöpfen und schleunigst wieder gehen ... Ein guter Plan!
Da hörte sie die Stimme des Fremden: „Gib mir zu trinken!“ Die Frau erstarrte. Ein Fremder sprach sie an und bat sie, ihm etwas zu geben. Was hatte sie schon zu geben? Jahrelang hatte sie gehofft, glücklich zu werden, indem andere ihr etwas gaben. Jedoch erlebte sie nur, dass diese ihre innere Leere nicht füllen konnten. Jedes Mal fühlte sie sich danach noch leerer, noch elender ... Nein, sie hatte nichts zu geben. Sie brauchte etwas, doch was?
„Gib mir zu trinken!“, sagte der Fremde zu ihr. Wusste er nicht, dass schon lange keiner mehr so zu ihr gesprochen hatte? Wusste dieser Fremde nicht, wie abgelehnt sie sich fühlte und dass sie sich deshalb isolierte?
Sie war sehr verwundert, dass der Fremde sie ansprach. Und doch spürte sie, wie gut ihr diese Ansprache tat. In ihrem Inneren löste sich etwas, das lange verschüttet war: Sie wurde angesprochen, ganz persönlich, sie als Mensch.
„Gib mir zu trinken!“ Diese Bitte, ihm etwas zu geben, erstaunte sie. Hatte sie etwas zu geben … etwas, das dem anderen gut tun könnte?
Sie waren direkt am Brunnen. Dieser Fremde wollte nichts Unmögliches. Er wollte nur etwas von dem, was da war, jedoch durch ihre Hand.
So ist Jesus! Er will, dass das, was bereits da ist, was Er schon gegeben hat, durch unsere Hände weiter fließt.

„Wenn du wüsstest ...“
Die Frau ist berührt. Sie öffnet sich und ist bereit zum Gespräch. Sie lässt sich darauf ein. Und sie staunt, dass ER sie ganz genau kennt. Das, was sie an sich selbst verachtet, ihre verkorkste Lebensgeschichte, kennt Er. Und trotzdem spricht Er sie an, ja will sogar etwas von ihr - unglaublich!
„Wenn du wüsstest, wer mit dir redet …“ Sie merkt, da ist etwas Besonderes. Er ist anders, ganz anders. Da ist eine Liebe, die sie bisher nicht kannte, obwohl sie sich so danach gesehnt hatte.
Und nun ist sie unerwartet mit Ihm am Brunnen und erlebt diese Liebe.

Lebendiges Wasser
Seine bedingungslose Liebe verändert sie. Sie vergisst ihre Angst, die Ablehnung von anderen und durch sich selbst. Nun rennt sie zu den Menschen hin, die sie gerade noch gemieden hat. Es fließt nur so aus ihr heraus: „Ich habe gefunden ..., seht selbst ...!“ Die anderen kommen und sehen und staunen und glauben dieser seither verachteten Frau … und dann Jesus selbst. Ohne diese Frau wären sie nicht zu Jesus gekommen!
Kein Leben ist so verkorkst, als dass Jesu lebendiges Wasser es nicht ganz neu beleben kann!
Wo Sein Lebenswasser der Liebe in einen Menschen fließt, fließt es über, fließt es weiter und zieht Kreise.

Irmgard Ott
Seelsorgerliche Beraterin und  1. Vorsitzende von el shalom