Mut zur Angst?


„Mut zur Angst?“ – was denken Sie da? Vielleicht: „Da hat jemand den Mund ganz schön voll genommen. Ich bin schon zufrieden, wenn ich mit meinen Ängsten einigermaßen leben kann. Ich bin schon dankbar dafür, wenn ich mit meiner Angst vor Prüfungen, mit meiner Angst vor dem Minus auf dem Konto in der Mitte des Monats einigermaßen klarkomme.

„Mut zur Angst?“ - vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass dahinter ein Fragezeichen steht. Das Motto lädt ein, darüber nachzudenken, ob Angst auch eine positive, eine kreative Seite besitzen könnte.

Der Reiz der Angst
Die psychologische Forschung und therapeutische Praxis haben in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich dafür sensibilisiert, dass Angst auch ein gesundes und notwendiges menschliches Grundgefühl ist. Aus Angst vor Krankheit sorgen wir für regelmäßige sportliche Betätigung und bemühen uns um gesunde Ernährung. Angst macht uns vorsichtig und umsichtig.

Wer einigermaßen psychisch gesund ist, den reizt die Überwindung der Angst. Beim Klettern in den Bergen bis ans Limit unserer Leistungsfähigkeit zu gehen, besser noch einen Tick darüber hinaus – das gibt den Kick, den wir ersehnen! Und warum lieben manche Menschen Bungee-Jumping?

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter stellte fest, Angst ist eine Farbe unseres Lebens.  

Die dunkle Seite der Angst
Aber die Angst besitzt auch eine andere, eine dunkle Seite. Es kommt auf das Maß an: Zu viel Angst ist schädlich! Es scheint, als habe die Angst in unserer Gesellschaft schon seit Jahren das gesunde Maß überschritten. Angststörungen gehören neben Depressionen zu den häufigsten psychischen Krankheiten in Deutschland.

Es gibt eine Reihe von Strategien, mit der dunklen Seite der Angst fertigzuwerden. Unsere Zeit ist groß darin, die Angst zu verdrängen. Vor Jahren saß ich im Flieger von St. Petersburg zurück nach Frankfurt a.M.. Plötzlich sackte die Maschine steil ab. Wie sich später herausstellte, war ein Vogelschwarm in eine der Flugzeugdüsen geraten. Ich erschrak ziemlich. Neben mir saß eine Frau, die unvermittelt zu reden begann. Auch ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Aus beruflichen Gründen müsse sie mehrmals in der Woche zwischen Russland und Deutschland hin- und herfliegen, obwohl sie an Flugangst litt. Das würde sie nur aushalten, indem sie eine gehörige Menge Alkohol trank.

Die Angst betäuben, ist eine häufig angewandte Verdrängungsstrategie. Andere versuchen, die dunkle Seite der Angst durch Konsum und Aktivität zu verdrängen, nur um nicht das Gefühl näher an sich herankommen zu lassen.

Manche sprechen permanent über ihre Ängste. Auch das kann zum Freibrief werden, die Ängste zu verdrängen, statt sie zu bewältigen. Solche Menschen schließen sich ab und halten jede Veränderung und Herausforderung von sich fern. Ihr Leben wird dadurch schal, seicht und oberflächlich.

Der Angst ins Gesicht schauen
Die Überschrift „Mut zur Angst?“ will dazu ermutigen, anders mit der dunklen Seite der Angst umzugehen, auf die genannten Verdrängungsstrategien zu verzichten. Der Beter des 54. Psalms kann uns dabei helfen.

Der Psalmbeter ist offensichtlich jemand, der seine Angst nicht verdrängt. Vielmehr hat er den Mut, seiner Todesangst ins Gesicht zu schauen und sich ihr zu stellen. Er sieht nüchtern, dass sein Leben tödlich gefährdet ist.

Von dem englischen Literaturnobelpreisträger Thomas Eliot stammt eines meiner Lieblingszitate: „Der Mensch verträgt nur wenig Wirklichkeit.“ Für den Beter des 54. Psalms scheint diese Feststellung nicht zu gelten – und für viele andere Psalmbeter auch. Das ist einer der Gründe, warum die Psalmen nicht nur das Gebetbuch Israels, sondern auch das Gebetbuch der Christenheit wurden. In den Psalmen werden die menschlichen Ängste ungeschönt, in ihrer ganzen Abgründigkeit zur Sprache gebracht.

Indem ich meine Angst ausspreche, sie klage, verschwindet sie zwar noch nicht, aber ich lerne, mit ihr umzugehen. Das, wofür ich Sprache habe, kann mir zur Erfahrung werden. Das gilt auch für die Angst. Bleibe ich angesichts meiner Angst stumm und sprachlos, bin ich dazu verurteilt, sie zu verdrängen.

Zwiegespräch mit GOTT
Die Psalmbeter bleiben aber nicht bei der bloßen Beschreibung der Angst stehen. Sie begnügen sich nicht damit, die eigene Angst aus sich herauszuschreien. Sie bringen sie in einen Dialog – in einen Dialog mit GOTT. Wie fürchterlich die Angst sie auch quält, wie gefährlich ihre Lebenslage auch ist, sogar wenn sie in den Fluten der Angst zu versinken drohen, wenn ihnen der Boden unter den Füßen wie weggezogen erscheint, schreien sie ihre Angst im Angesicht GOTTES heraus.
Dabei ist GOTT für die Psalmbeter keine unpersönliche höhere Macht. Vielmehr nennen sie GOTT mit Namen, die in die Tiefe der Angst hinabreichen: „GOTT, meine Stärke, mein Fels, meine Burg, mein Erretter, mein Schild und mein Schutz.“ In der Angst trägt keine Lehre über GOTT. Die Angst sitzt tiefer und ist stärker, als noch so richtige theologische Lehren.

Gerade dann, wenn uns die Angst fest im Griff hält, ist es eine unschätzbare Chance, in GOTT ein Gegenüber, einen Orientierungspunkt, einen Anker außerhalb unserer selbst zu finden. Ich kann mich mitsamt meiner Angst in der Hand GOTTES bergen, GOTT die Angst im wahrsten Sinne des Wortes anzuvertrauen – im Vertrauen, dass ER größer ist als meine Angst. Auf diese Weise kann sich in unserer Angst ein Fenster öffnen, und wir bekommen die Chance, Gegenerfahrungen zu machen.

Eine neue Hoffnung
Der Beter des 54. Psalms hat genau das erlebt. Nachdem er GOTT seine Todesangst geklagt hat, bekennt er: „Siehe, GOTT steht mir bei, der HERR erhält mein Leben. ER wird die Bosheit meinen Feinden vergelten. Vertilge sie um DEINER Treue willen! Denn DU errettest mich aus aller meiner Not, dass mein Auge auf meine Feinde herabsieht.“

David bringt seine neu gewonnene Hoffnung auf GOTT mit Worten zum Ausdruck, die uns heute fremd anmuten. Keiner von uns würde wahrscheinlich von sich aus so beten. Entscheidend ist jedoch, dass der Beter seine Rachegelüste GOTT anvertraut. Dadurch wird er innerlich entlastet und zugleich davon befreit, selber Rache und Vergeltung üben zu müssen. Er kann aussteigen aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt, von Unrecht und Vergeltung.  

Viele Menschen sind regelrecht verliebt ins eigene Scheitern. Der Psalmbeter gehört nicht zu ihnen. Er will mit allen Kräften aus seiner Todesangst heraus. Indem der Beter seine Angst GOTT anvertraut, sie IHM überlässt, wird für ihn ein kreativer Umgang mit der Angst möglich. Er kommt aus seiner emotionalen Sackgasse heraus. Der Bann der Angst ist gebrochen. Trotz seiner Schwierigkeiten, seiner tödlichen Bedrohung, zeichnen sich Lösungen ab. „So will ich DIR ein Freudenopfer bringen und DEINEN Namen, HERR, preisen, dass er so tröstlich ist.“

Von Ernst Bloch, der viele Jahre Professor für Philosophie an der Universität Leipzig war, stammt der Satz: „Die Hoffnung ersäuft die Angst.“ Ein starkes Bild! Der Beter des 54. Psalms hat die Hoffnung, dass GOTT ihn nicht hängen lässt – trotz allen Augenscheins. Stärker als alle Angst ist die Hoffnung.

Dr. Peter Zimmerling
Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig und 2. Vorsitzender von el shalom