Wer bin ich?


Gedanken zu einem Gedicht von Dietrich Bonhoeffer

Das Gedicht „Wer bin ich?“ ist eines der letzten, das Dietrich Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle in Berlin-Tegel verfasst hat. Es entstand im Juni 1944, also nur wenige Wochen vor dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli, an dem viele Freunde Bonhoeffers beteiligt waren und dessen Scheitern auch Bonhoeffers Schicksal besiegelt hat. Dietrich Bonhoeffer, damals 38 Jahre alt, legte das Gedicht am 8. Juli 1944 einem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge bei.

Theologischer Ausgangspunkt des Gedichts ist die Erkenntnis, dass die Bibel die moderne Unterscheidung von außen und innen nicht kennt. Darüber hat Bonhoeffer in seinem Brief intensiv nachgedacht.

Gestörte Beziehung
Der Mensch ist nach der hebräischen Bibel eine Einheit von Leib und Geist. Allerdings ist die Einheit des Menschen mit sich selbst seit dem Sündenfall gestört. Für die Bibel ist die Sünde primär eine Beziehungsstörung. Als Folge des Sündenfalls wird die Beziehung des Menschen zu Gott, zum Mitmenschen, zur Mitwelt und zu sich selbst lawinenartig zerstört. Der Zerfall der Beziehung zu Gott zeigt sich vor allem in der Verweigerung von Dank und Anbetung. Zwischenmenschlich wird der Beziehungszerfall am Erkalten der Liebe und Fürsorge füreinander erkennbar. Durch den Zerfall der Beziehung des Menschen zu sich selbst verlieren Bewusstsein und Unterbewusstsein ihre Einheit.

Eine Botschaft des Gedichtes ist, dass auch die intensivste psychische Selbstprüfung den Menschen nicht aus seiner Selbstentzweiung herauszuführen vermag: „Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich?“ Indirekt wird allerdings noch eine zweite Botschaft vermittelt, die uns aufmerken lässt: Selbsterkenntnis ist die Voraussetzung, dass die Entzweiung überwunden werden kann. Der Zwiespalt unseres Menschseins muss zunächst wahrgenommen und ausgehalten werden.

Wahrhaftig werden
Bereits die ersten christlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen, die sogenannten Wüstenväter und Wüstenmütter, waren überzeugt, dass Menschen, die im Glauben leben, sich vor einer „spirituellen Abkürzung“ hüten sollen, nämlich ohne Selbsterkenntnis Gott zu suchen. Sie glaubten, dass der Mensch sonst in einer selbst projizierten Sichtweise hängen bleibt und Gott nie wirklich erkennt.

So waren die Wüstenväter skeptisch, wenn einer meinte, ohne wirkliche Selbsterkenntnis zu Gott finden zu können. In der Einsamkeit haben sie gelernt, nicht länger vor sich selbst zu fliehen, sondern bei sich selbst zu wohnen. Sie erlebten, dass Selbsterkenntnis die unerlässliche Voraussetzung zur wirklichen Gotteserkenntnis ist.

Schon im Alten Testament heißt es: „Gott lässt es dem Aufrichtigen gelingen“ (Sprüche 2,7). Indem ich vor Gott und Menschen wahrhaftig zu werden beginne, trete ich auf die Seite Gottes. Damit gerate ich unweigerlich in den Machtbereich Jesu Christi, der von sich gesagt hat, dass er selbst die Wahrheit ist (Johannes 14,6).

Geschenk der Gnade
Der Glaube gründet nach reformatorischem Verständnis nicht in meinem Streben, mir Gott gewogen zu halten. Die umstürzende Neuentdeckung Luthers bestand in der Erkenntnis, dass Gott dem Menschen Seine Gnade schenkt. Niemand kann und braucht sich den Himmel verdienen! Motiv für den Glauben ist ausschließlich die Dankbarkeit und Freude, diese grundlose Barmherzigkeit und Liebe Gottes zu erfahren.  

Paulus schreibt in Galater 5,25: „Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“ – anders ausgedrückt: „Werdet, was ihr schon seid!“
Das Leben in der Nachfolge Jesu Christi umfasst eine Freiheit, die durch Fehler nicht gemindert werden kann. Gottes Gnade ist so groß, dass sich vor ihr die menschlichen Sünden wie Sandkörner gegenüber der Unendlichkeit des Meeres ausnehmen.

Im Glauben an Jesus Christus muss der Mensch nicht länger mehr sein „als ein heilsam vor Gott und von Gott begrenzter Mensch“.

„Dein bin ich“
Im Gedicht beschreibt Bonhoeffer schonungslos den Zwiespalt seiner Existenz im Gefängnis: Einerseits wirkt er auf andere Menschen wie ein Gutsherr in seinem Schloss. In der Selbstwahrnehmung jedoch erlebt er sich schwach, voller Angst und Zweifel. Indem er diesen Zwiespalt, diese Spannung schonungslos wahrnimmt und ausdrückt, wird der Weg frei zu seiner Überwindung. Er findet damit zu einer neuen umfassenderen Einheit, die dem Menschen durch Gott in Jesus Christus zuteil wird: „Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“  
Es fällt auf, dass in Bonhoeffers Gedicht die Lösung dieses menschlichen Dilemmas in nur einer Zeile beschrieben wird, der Zustand des Fragens und Zweifelns dagegen in vielen Sätzen.
Bonhoeffer überspielte diesen Zwiespalt nicht. Wir brauchen die zum Menschsein gehörenden Widersprüche und Spannungen in uns nicht leugnen. Der Glaube hat sonst keine Tragkraft und ist wie ein Nagel, der schnell wieder aus einer Gipswand herausbricht.
Erst durch die nüchterne Wahrnehmung der Wirklichkeit kann das Evangelium im Leben eines Menschen seine ganze Kraft entfalten.
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“  

Peter Zimmerling
Pfarrer Dr. Peter Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie an der theologischen Fakultät Leipzig und zweiter Vorsitzender des el shalom-Trägervereins


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Gedicht von Dietrich Bonhoeffer

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!